Gebt den Spaziergang zurück! Sprachwandel in Zeiten der Pandemie

Dass Sprache einem stetigen Wandel unterliegt, ist nichts Neues. Aber was mich richtig wurmt, ist die Umdeutung eines meiner liebsten Wörter, dem Spaziergang.
Steinmauer auf der "Hapy New Year" gesprayt ist.

Eine gefühlte Ewigkeit, aber eigentlich nur zwei Jahre lang ist die Pandemie und Corona das beherrschende Thema des Alltags. Abgesehen von den Maßnahmen, um mich und andere nicht anzustecken, hat dieses Virus einen enormen Einfluss auf meine Sprache und meinen Wortschatz. Vor zwei Jahren hätte ich noch gegrübelt, was Aerosole genau sind oder wie ich Inzidenz schreibe. RKI, PEI, PCR und mRNA sind Abkürzungen, die mir mittlerweile im Schreibprozess so flüssig von den Fingern gleiten wie sonst nur etc. und d. h. Ich habe mehr über Viren und Impfstoffe innerhalb eines Jahres gelernt als im Verlauf meines bisherigen Lebens. Fachwörter oder neue Wörter zu erlernen, gehören in meinem Job zum Alltag. Dass die Pandemie aber den deutschen Wortschatz für alle erweitert hat, beeindruckt auch Sprachwissenschaftler. Die stellten schon im letzten Jahr bis zu 2000 neue Wörter, sogenannte Neologismen, fest.

Dass Sprache einem stetigen Wandel unterliegt, ist nichts Neues. Aber was mich richtig wurmt, ist die Umdeutung eines meiner liebsten Wörter. Wenn Querdenker plötzlich „spazieren gehen“ und viele Medien diese die eigentliche Absicht verschleiernde Formulierung übernehmen, erwacht in mir das Bedürfnis, den Spaziergang zu verteidigen. Ihm wieder die Bedeutung zu verleihen, die er ursprünglich hatte. Meine Arbeit vollzieht sich hauptsächlich am Bildschirm und sitzend. Der Spaziergang ist das, was meinen Rücken aufrecht hält und mich auf neue Gedanken bringt.

Zugegeben, der Spaziergang ist ein höchst bürgerliches Ritual. Also zumindest in seiner Geschichte, denn wer hatte früher schon Zeit, spazieren zu gehen? Das waren halt nur die Adligen, die für sich arbeiten haben lassen und später dann die Bürgerlichen. Das Wort „spazieren gehen“ stammt aus dem Italienischen und steht für „sich räumlich ausbreiten“. Umso mehr bin ich dafür, dass die Querdenker das Wort nicht für sich vereinnahmen dürfen. Fehlte noch, dass sie sich weiter ausbreiten mit ihren kruden Theorien und dem völligen Unwillen, sich mit sachlichen Antworten zufrieden zu geben. Denn wer das Wort Spaziergang nutzt, um Regeln des Versammlungsrechts zu unterlaufen, steht in der Tradition antidemokratischer Bewegungen. Umso wichtiger das Wort Spaziergang nur für das zu nutzen, was es beinhaltet: Ein gemächliches, unpolitisches, entspanntes Gehen und Frische-Luft-Schnappen!

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